Nur 2 Prozent fallen durch deutsche Hochschulabschlussprüfungen

Über zehn Jahre hatte Alaa S. am Institut für Luft- und Raumfahrt der Technischen Universität Berlin studiert. Doch der 31jährige sitzt heute nicht auf einer Führungsetage, sondern in Untersuchungshaft. Denn seinem Professor, so die Staatsanwaltschaft, soll er mit einem palästinensischen Terrorkommando gedroht haben. Als ein Wachmann ihn aus dem Institut werfen wollte, habe Alaa S. ihn mit einem Messer attackiert. Der Grund für Alaas Zorn: Der Student hatte für seine Diplomarbeit im Fach Luftfahrzeugbau eine Fünf bekommen. Alaa S. war durchgefallen, sein Studium beendet. Damit konnte Alaa S. nicht rechnen. Denn wer in Deutschland zu einer Hochschulprüfung antritt, fällt in der Regel nicht durch.

Deutschlandfunk, DLF-Magazin, 24. Juni 2004

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Gerhard Hüttig ist Professor Institut für Luft- und Raumfahrt der TU Berlin. Der Hochschullehrer hat Hunderte Diplomprüfungen abgenommen. Aber durchgefallen ist bei ihm fast keiner.

OTON
In meiner Laufbahn als Hochschullehrer – ich bin jetzt 12 Jahre hier an der TU Berlin – kann ich mich wirklich nur an einen Fall erinnern, wo ich den schwarzen Peter hatte und sagen musste: Wegen mir kann er das Studium nicht beenden.

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Hochschullehrer in der ganzen Republik könnten ähnliches Berichten. Denn wer an einer deutschen Hochschule zu einer Abschlussprüfung antritt, fällt in der Regel nicht durch. In Zahlen des Bundesamtes für Statistik heißt das: Im Jahr 2002 haben von Hundert Prüflingen rund 98 bestanden. In den vergangenen zehn Jahren war das nicht viel anders, stets lag die Durchfallquote bei 1-2 Prozent. In rund der Hälfte aller Fächer, die an deutschen Hochschulen angeboten werden, ist 2002 kein einziger Prüfling durchgefallen. Darunter sind viele geisteswissenschaftliche und künstlerische Fachrichtungen wie Gesang, Spanisch, Islamwissenschaft oder Dokumentationswissenschaft. Aber auch Naturwissenschaften wie Geophysik, Luft- und Raumfahrttechnik und Tiermedizin. Die höchste Durchfallquote weist der Studiengang Stahlbau auf: 13 von 100 Prüflingen bestanden im Jahr 2002 ihr Examen auch nach mehreren Anläufen nicht. Tino Bargel von der AG Hochschulforschung der Universität Konstanz sagt, die Abschlussprüfung an Hochschulen sei zu einer Formsache geworden:

OTON
In gewisser Weise ja – wie die Abiturprüfung ja auch: Die Abiturprüfung ist so angelegt, dass eigentlich keiner durchfallen sollte. Deswegen soll alles getan werden, dass er die Abschlussprüfung besteht – bis hin in ganz einzelnen Fällen, wo der Kandidat sauschlecht ist und trotzdem mit einem Befriedigend durch die Prüfung gelassen wird, weil gesagt wird: In Gottes Namen, er geht ja jetzt weg.

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Kann also jeder Dummkopf sein Diplom in Geophysik machen? Bauen unfähige Luftfahrtingenieure unsere Flugzeuge? Sicher nicht. Was aber sind Diplom, Magister und Fachhochschul-Zeugnis noch wert, wenn quasi jeder besteht, der sich zur Prüfung anmeldet? Darauf gibt es viele Antworten. Die wichtigste Erklärung von Bildungsforschern, Hochschullehrern und Bildungspolitikern lautet: Wenn Studenten sich zur Abschlussprüfung melden, haben sie bereits bewiesen, dass sie akademischer Weihen würdig sind. Wer durchfallen könnte, wird schon vor der Abschlussprüfung im Verlauf des Studiums aussortiert, sagt Prof. Gert Wagner, Forschungsdirektor am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung und Mitglied des Wissenschaftsrates, der die Bundesregierung in Bildungsfragen berät:

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Sehr viel Studenten fangen mit einem Studium an, vom dem schnell klar ist, dass sie dafür nicht geeignet sind. Die werden entweder in den Vordiplomprüfungen heraus geprüft oder in den Geisteswissenschaften hören sie irgendwann auf zu studieren, gehören also zu den so genannten Abbrechern. Aber die, die mit einem Studium nicht zurecht kommen, kommen in der Regel nicht soweit, ins Diplom reinzugehen.

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In der Tat: Nach Berechnungen des Hochschulinformationssystems HIS bricht knapp ein Drittel der Studenten das Studium ab. Richtig gesiebt – nach rationalen und fachlichen Kriterien – wird allerdings meist nur in den Naturwissenschaften. Nur hier sind Zwischenprüfung und Vordiplom echte Hürden. Yussif Abdel Gadir studiert seit 20 Semestern Luft- und Raumfahrttechnik und sitzt gerade an seiner Diplomarbeit:

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Es ist so, dass das Grundstudium bei uns extrem hart ist und die ganz große Siebfunktion dort auch schon angesetzt wird, da sind es über 50 Prozent der Studenten, die dort ausscheiden, die merken, das ist nichts für mich, das ist zuviel Mathematik, zuviel Physik, zuviel Mechanik. Die Belohnung kommt dann im Hauptstudium und deshalb ist das Hauptstudium auch wesentlich motivierender. Da beschäftigt man sich viel intensiver mit dem Thema und dann klappt´s meistens auch mit dem Prüfer.

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Anders sieht es bei vielen geisteswissenschaftlichen Fächern aus. In Geschichte, Germanistik oder Volkskunde ist die Zwischenprüfung oft eine Lappalie. Ins Hauptstudium kommt häufig jeder, der beim Prüfungsamt die richtigen Scheine vorlegen kann. Eine fachliche Vorauswahl findet kaum statt. In diesen Fächern geben aber viele Studenten von sich aus auf: Die Abbrecherquote in geisteswissenschaftlichen Fächern weit über dem Durchschnitt. Von zehn Studenten, die anfangen, Geschichte zu studieren, machen nur zwei auch ihren Magister oder ein Staatsexamen. Grund dafür ist aber nicht unbedingt ein Mangel an Begabung: Oftmals fehlt einfach das Geld – oder der tägliche Kampf im Uni-Dschungel erstickt jegliche Motivation. Wer es fünf Jahre in überfüllten Hörsälen aushält, Seminare, Hausarbeiten, Praktika und Vorlesungen koordiniert, der beweist nicht unbedingt Fachwissen, sondern vor allem Organisationstalent, starken Willen und Leidensfähigkeit. Hochschulforscher weisen darauf hin, dass es nicht das Ziel einer Hochschule sein kann, viele Studenten durchfallen zu lassen. Eine solche Verschwendung von Ressourcen leistet sich kaum ein Land der Welt, sagt Professor Gert Wagner vom Wissenschaftsrat:

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An den besten Unis, den so genannten Elite-Universitäten in den USA und Großbritannien, fällt überhaupt niemand durch, einfach deshalb, weil dort vorher sehr gut geprüft wird, ob jemand für ein Studium geeignet ist. Das ist in Deutschland bei weitem nicht der Fall.

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Und so bleibt die Frage, ob es wirklich nur die besten Studenten bis zur Abschlussprüfung schaffen und sie auch bestehen. Maria Böhmer, Professorin für Pädagogik in Heidelberg, hat jahrelang Staatsexamen für das Lehramt abgenommen. Auch sie kann sich nur an einen Studenten erinnern, den sie durch die Abschlussprüfung hat fallen lassen. Heute ist Böhmer für die CDU/CSU-Fraktion stellvertretendes Mitglied des Bildungsausschusses im Bundestag. Sie weist darauf, dass nicht nur fast alle Prüflinge ihre Abschlussprüfungen bestehen, sondern nach einer Untersuchung des Wissenschaftsrates in vielen Fächern auch nur Einsen und Zweien bekommen. Inwieweit sind Abschlussprüfungen da wirklich noch Leistungsnachweise?

OTON
Das ist natürlich besonders auffällig, wenn sie im geisteswissenschaftlichen Bereich bestimmte Studiengebiete sehen und dann feststellen, dass der überwiegende Teil der Studenten die Uni mit de Note sehr gut verlässt. Es wäre höchsterfreulich, wenn die Leistungen dann auch sehr gut entsprechen würden. Aber da wir wissen, dass wir er es mit der gaußschen Normalverteilungskurve zu tun haben, ist hier wohl Skepsis angebracht.

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Doch Rettung kommt aus Brüssel. Denn im Rahmen des so genannten Bologna-Prozesses sollen alle Studiengänge EU-weit vereinheitlicht werden. In Europa wird es in Zukunft nur noch international anerkannte Bachalor- und Masterabschlüsse geben. Zentrales Element dieser Studiengänge sind regelmäßige Prüfungen während des ganzen Studiums. Und wenn Studenten mehrmals im Semester Leistung nachweisen müssen, so der Plan, kommen wirklich nur jene bis zum Abschluss, die sich akademischer Weihen als würdig erwiesen haben.

Ein Gedanke zu „Nur 2 Prozent fallen durch deutsche Hochschulabschlussprüfungen“

  1. Das ist eigentlich mal wieder typisch für Professoren. In den Fächern der Ingenieurwissenschaften fallen in der Regel 60-70% in den Klausuren durch. Dann sagen immer die Leute na ja wenn du dich nicht anstrengst fällst du eben durch. Die Professoren meinen in der Regel die hohen Durchfallrate sei auf schlechte Betreuung und die einspaarmaßnahmen der Bundesländer zurück zu führen. Die Studenten wehren sich eh nicht weil sie ständig unter Druck stehen und Stress haben.
    Eine traurige Aspekt über das viel zu selten gesprochen wird.

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