Viel ist in den vergangenen Monaten über die Gesundheitsreform berichtet worden. Im Mittelpunkt standen stets Praxisgebühr, Zuzahlungen und Brillengläser. Doch am 1. Januar sind noch weitere brisante Regelungen in Kraft getreten, die bisher kaum Beachtung fanden. Verbraucherschützer warnen vor allem vor der so genannten Kostenerstattung: Danach können sich Pflchtversicherte de facto zu Privatpatienten erklären. Ärzte reiben sich die Hände – und verschweigen mitunter die beträchtlichen Risiken für den Patienten.
Deutschlandfunk, DLF-Magazin, 5. Feb. 2004
Sprecher: Darauf scheinten die deutschen Kieferorthopäden lange gewartet zu haben: “Endlich privat!” jubelt das Branchenportal kfo-online.de. Endlich könnten auch gesetzlich Pflichtversicherte “alle Vorteile” genießen, die Privatpatienten seit Jahren so schätzen: Zugang zu neuen Behandlungsmethoden und Entscheidungsfreiheit über die Art der Therapie – das begeistert den Bundesverband der Kieferorthopäden ebenso wie ihre Kollegen in der Bundeszahnärztekammer: Patienten bekämen jetzt Zugang zum “gesamten Therapie-Spektrum der modernen Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde”, verbreiten die Standesvertreter gut gelaunt. Auch AOK-Kunden seien nicht mehr den “Beschränkungen des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung” unterworfen. Das ist alles richtig – aber nur die halbe Wahrheit.
Denn für Patienten, die sich auf die so genannte Kostenerstattung einlassen, wird die Therapie nicht nur “schonender, komfortabler und schneller”, wie die Kieferorthopäden erklären: Der Arztbesuch wird in erster Linie teuer. Doch über die enormen finanziellen Risiken, die für Patienten mit der Kostenerstattung verbunden sind, verliert die Ärztelobby kein Wort.
Wer gesetzlich versichert ist, kann sich seit dem 1. Januar bei seiner Krankenkasse zur Kostenerstattung melden. Das Model klingt erstmal verlockend: Ein Pflichtversicherter geht zum Arzt seiner Wahl und kann frei wählen aus dessen Therapie- und Medikamentensortiment: Was seine Kasse nicht zahlt, legt der Patient aus eigener Tasche drauf. Doch der Deal hat viele Haken, an denen jedoch nur Patienten hängen bleiben: Erstens bekommt der Patient von seinem Arzt eine Rechnung über die gesamten Behandlungskosten und muss diese erstmal aus eigener Tasche bezahlen – da ist die Grippe schnell das kleinste Problem. Ulrike Steckkönig, Gesundheitsredakteurin bei Stiftung Warentest/Finanztest:
O-Ton: Das Problem ist: Die Leute sind für ein Jahr an die Enscheidung gebunden. Und wenn sie in diesem Jahr krank werden und eine Dauerbehandlung brauchen, dann haben sie das Problem, dass sie nicht nur Praxisgebühr und Zuzahlung leisten müssen, sondern eben auch das Arzthonorar und die Medikamentenkosten vorstrecken müssen. Das kann jemanden, der nicht so hohes Einkommen hat umwerfen.
Sprecher: Doch der zweite Haken wiegt noch schwerer: Zwar schreibt der Bundesverband der Kieferorthopäden: “Die Krankenkasse erstattet Ihnen komplett die Ihnen zustehenden Kassenleistungen.” Doch das ist irreführend: Der Patient reicht zwar die Arztrechnung bei seiner Kasse ein, aber bekommt nie den gesamten Betrag erstattet. Das liegt daran, dass der Kassenpatient für seine Ärzte zu einem Privatpatient wird, dem sie wesentlich höherer Honorare berechnen dürfen – und zwar für alle Leistungen, vom Stützverband bis zur High-Tech-Thearpie: Ein Ganzkörper-Check kostet dann nicht mehr rund 15 Euro, sondern bis zu 34 Euro, also mehr als doppelt so viel. Von seiner gesetzlichen Krankenkasse bekommt der Patient aber nur den Kassensatz erstattet, also jene 15 Euro. Und davon zieht die Kasse noch eine Bearbeitungsgebühr ab.
Das heißt: Wer sich einmal für die Kostenerstattung entscheidet, weil er eine neue Therapien und Medikamente nutzen will, der zahlt ein Jahr lang bei jedem Arztbesuch aus eigener Tasche drauf – egal ob ein blutender Zeh verbunden wird oder die Zähne luxussaniert werden. Und – das ist der dritte Haken: Der Patient bekommt nicht nur vom Hausarzt eine gesalzene Rechnung, sondern auch vom Zahnarzt, vom Kieferorthopäden, vom Gynäkologen und so weiter. Wenn er es nicht ausschließt, muss der Patient sogar die Kosten einer stationären Behandlung im Krankenhaus vorstrecken und teilweise bezahlen. Da sollte man gut überlegen, ob man sich zum Privatpatienten erklärt, nur weil ein Arzt ein Medikament verschreiben will, das die Kasse nicht bezahlt. Sonst kann die neue Entscheidungsfreiheit sehr schnell sehr teuer werden, sagt auch der Uwe Kraffel, Vorsitzender des Berufsverbandes der Augenärzte.
O-Ton: Das Risiko für den Patienten wäre, wenn er intensiv einer ambulanten Betreuung bedürfte, könnte die finanzielle Beteiligung nur schwer zu überschauende Ausmaße annehmen.
Sprecher: Für die Patienten ist die Kostenestattung also eher eine Kostenexplosion, die in der Regel mehr schadet als nutzt. Doch davon ist in der Werbung von Kieferorthopäden und Zahnärzten nichts zu lesen. Denn Ärzte profitieren weit mehr von der Kostenerstattung als ihre neuen Privatpatienten. Christian Bolstorff, Präsident der Berliner Zahnärztekammer sagt, warum ihm die neue Freheit der Kassen-Patienten so gut gefällt:
O-Ton: Wir kommen natürlich auch aus der Budgetierung raus. Die Budgettierung ist absolut ungerecht. Bedeutet, dass ich am Ende nicht mehr den vollen Lohn für meine Arbeit bekomme. Und wenn ich mit dem Patienten abrechne, bekomme ich die Einzelleistung bezahlt. Das ist für mich wichtig. Ich weiß, was ich dann für einen Lohn bekomme.
Sprecher: Zu Deutsch: Wenn sich viele ihrer Patienten für die Kostenerstattung entscheiden, verdienen die Ärzte mehr Geld. Während Ärzte pro Kassenpatient im Quartal nur eine bestimmte Summe berechnen dürfen, können sie so viele Privatpatienten verarzten wie so wollen und allen die weit höheren Honorarsätze berechnen.
Der Augenarzt Uwe Kraffel sagt, er habe wegen der hohen finanziellen Risiken noch keinem einzigen Patienten geraten, sich auf die Kostenerstattung einzulassen. Doch rechnet er damit, dass bald Zusatzversicherungen angeboten werden. Die würden dann Differenz zwischen dem Rechnungsbetrag des Arztes und dem, was die Kasse erstattet, übernehmen – Kosten: rund 30 Euro im Monat. Welchen Patienten wird er dann zur Kostenerstattung raten?
O-Ton: Wenn so einen Tarif geben wird, praktisch allen.
Sprecher: Noch weiß niemand genau, wieviel Pflichtversicherte sich seit dem 1. Januar auf die Kostenerstattung eingelassen haben, es dürften noch nicht viele sein. Doch nach Meinung von Verbraucherschützern besteht die Gefahr, dass Ärzte ihre Kassenpatienten in die Kostenerstattung drängen, um so höhe Honorare zu kassieren und Dienstleistungen zu verkaufen, die sonst niemand bezahlt. Thomas Isenberg von der Verbraucherzentrale Bundsverband:
O-Ton: Die Gefahr des Hineindrängens in die Kostenerstattung besteht. Konkret haben sie ja schon in Ärzte-Zeitungen die Werbekampagnen laufen von privaten Versicherungsunternehmen, die sagen: Sieh zu, dass dein Patient einen Abschluß für diese Zusatzversicherung abschließt. Das ist gut für den Patient, der dann die Kostenerstattungs-Mehrkosten aus der Zusatzversicherung bezahlt bekommt. Und für dich als Arzt ist es auch gut, weil du höhere Verdienstmöglichkeiten hast.
Sprecher: Ärztevertreter bestreiten, dass es ihnen im Werben für Kostenerstattung in erster Linie um ihren privaten Kontostand geht. Uwe Kraffel vom Berufsverband der Augenärzte sagt, er werde seinen Patienten die Kostenerstattung aus einem anderen Grund empfehlen:
O-Ton: Das Problem ist einfach, dass die Versorgung der Patienten immer schlechter wird. Natürlich ist es auch so, dass man finanziell besser dasteht, aber vor allem: Wir können dann die bessere Medizin bieten.
Sprecher: Doch die Wirkung der “bessere Medizin” ist bei genauer Betrachtung gering. Zwar kann, wer sich auf die Kostenerstattung erinläßt, Therapien nutzen, die noch von keiner gesetzlichen Kasse bezahlt werden. Auch bekommt er schneller einen Termin. Aber Verbaucherschützer bemängeln, dass der medizinische Nutzen für die Patienten minimal sei. Ulrike Steckkönigvon Finanztest, sagt, für Pflichtversicherte der Gesetzlichen Krankenverischerung, kurz GKV, sei es medizinisch nicht notwendig, sich zum Privatpatienten zu erklären:
O-Ton: Die GKV-Patienten haben nach wie vor den gesetzlich verbrifeten Anspruch, dass sie alle Leistungen die medizinisch notwendig Leistungen bekommen. Die Begründung, warum eine bestimmte Medikament nicht im Leistungskatalog der gesetzlichen Versicherung drin ist, die sind nicht immer nachvollziehbar. Aber grundsätzlich ist es schon so: Was notwendig ist, bekommen die Patienten.
Sprecher: Wenn ein Arzt vorschlägt, die Kostenerstattung zu wählen, weil angeblich vorteilhafte Leistungen oder Medikamente nicht von der Kasse bezahlt werden, dann sollte der Patient skeptisch sein:
O-Ton: Dann sollte der Patient auch immer nachfragen, worin genau der meßbare Vorteildieses Medikaments gegenüber anderen liegt und im Zweifelsfall auch bei der Krankenkasse nachfragen, ob das denn wirklich so ist, erstens, dass die Kasse es nicht zahlt und zweitens, dass es diesen medizinischen Zusatznutzen auch wirklich gibt.
Sprecher: Dass dieser Rat begründet ist, belegt der Augenarzt Uwe Kraffel. Auf die Frage, mit welchen konkreten medizinischen Vorteilen er einem Patienten überzeugen will, sich auf die teure Kostenerstattung einzulassen, sagt Kraffel:
O-Ton: Dem Patienten entsteht der Nachteil, dass er einfach Medikamente nehmen muss mit einem ungünstigeren Nebenwirkungsprofil, Medikamente, die ihn müder machen, die Leistungsbereitschaft herabsetzen, was einfach Nachteile hat.