Das System Putin – wie der russische Präsident seine Macht ausbaut

Putin will die jüngsten Terroranschläge nutzen, um die dünnen Säulen der russischen Zivilgesellschaft durch eine “Vertikale der Macht” zu ersetzen. Wie der russische Präsident seine Herrschaft ausbauen will, habe ich versucht, in einem FR-Artikel zu beschreiben.

Frankfurter Rundschau, 07. Oktober 2004

Man muss sich das ungefähr so vorstellen: Bundeskanzler Gerhard Schröder bestimmt, wer in Bayern und Niedersachsen regiert. Gregor Gysi darf ohne Genehmigung des Kanzleramtes nicht in der „Tagesschau“ auftreten. Und bei Bundestagswahlen stehen nur noch Kandidaten zur Wahl, die vom Bundeskanzler vorsortiert wurden. Dieses Szenario ist für Demokraten ein Albtraum. In Russland ist es zum Teil schon Realität.

Die russische Verfassung schreibt dem Präsidenten weit mehr Macht zu als das deutsche Grundgesetz dem Bundeskanzler. Doch Wladimir Putin reicht das nicht. Bürger, Verwaltung und Unternehmen sollen dem russischen Präsidenten im Kreml gehorchen – wie einst Parteisoldaten dem Politbüro.

Seit Putins Amtsantritt im Jahr 2000 wurden und werden unabhängige Medien, das Parlament und nichtstaatliche Organisationen von seinem Apparat geschliffen und durch eine von ihm propagierte „Vertikale der Macht“ ersetzt. Putin wird dabei von den Silowiki gestützt, einer mächtigen russischen Elite. Ihre Mitglieder stammen wie der Präsident aus dem Sicherheits- und Geheimdienstmilieu und sind nun Teil seines Machtapparats.

Mit Hilfe der Silowiki will der Kreml Kontrolle über private Unternehmen gewinnen. Getreue Putins werden in wichtigen Aufsichtsräten platziert. Politisch ambitionierte Konzernbosse wie Michail Chodorkowski sehen sich staatsanwaltschaftlicher Verfolgung ausgesetzt. Und das ist nicht alles: Demnächst soll der freie Internetzugang restriktiv geregelt werden; die Versammlungsfreiheit wurde bereits eingeschränkt.

Das staatliche Fernsehen – in weiten Teilen des riesigen Landes die einzige Informationsquelle – wird seit längerem vom Kreml kontrolliert. Oppositionelle tauchen in wichtigen Nachrichtensendungen oft nur mit Genehmigung auf und in Zeitungen werden dem Kreml unangenehme Wörter nicht verwendet. Die Entlassung von Raf Schakirow, Chefredakteur der großen Tageszeitung „Iswestija, “ wurde als Warnung verstanden. Er hatte offen über die Ereignisse in Beslan berichtet und schockierende Fotos von verwundeten und toten Kindern veröffentlicht.

Die Geiselnahme in Beslan und kurz zuvor die beiden Flugzeugentführungen nahm Kreml-Führer Wladimir Putin zum Anlass, um seine Macht weiter auszubauen: Er will das russische Wahlgesetz in zwei entscheidenden Punkten ändern. Da Putins Partei “Einiges Russland” bei den letzten Parlamentswahlen 300 Mandate erhielt und somit über eine Zweidrittel-Mehrheit verfügt, darf das Gesetz als beschlossen gelten.

Der erste Punkt betrifft die Parlamentswahlen: Noch wird das russische Parlament, die Duma, gewählt wie der Deutsche Bundestag. Von 450 Abgeordneten sitzt die Hälfte in der Volksvertretung, weil sie auf den vorderen Plätzen einer Partei-Liste standen. Die andere Hälfte sind Direktkandidaten, die sich oft ohne Unterstützung einer Partei um ein Mandat bewarben.

Dank dieser Direktmandate kamen bei der letzten Parlamentswahl 2003 eine handvoll Liberaler in die Duma. Sie sind die einzigen in der Moskauer Volksvertretung, die noch als vollwertige Kontrolleure der Exekutive gelten können. Doch genau diese Direktmandate will Putin abschaffen. Olga Sastroschnaja von der Zentralen Wahlkommission sagt, die Abschaffung verletze Artikel 32 der russischen Verfassung. Der garantiert, dass jeder Bürger sich um ein Amt bewerben darf.

Die zweite wichtige Änderung betrifft die Wahl der Gouverneure, die vergleichbar sind mit den deutschen Ministerpräsidenten. 89 Provinzen hat die russische Föderation. Anders als bei uns, wo Ministerpräsidenten vom jeweiligen Landesparlament bestimmt werden, werden die russischen Provinzchefs bisher direkt vom Volk gewählt. Das will Putin ändern. Geplant ist, dass der russische Präsident einen Provinz-Regenten vorschlägt und die Regional-Parlamente ihn nur noch bestätigen. Damit würde die Gewaltenteilung, das zentrale Prinzip einer Demokratie, untergraben, weil die Gouverneure in der zweiten Kammer des Parlaments sitzen und dort eigentlich die Exekutive kontrollieren sollen: Also Wladimir Putin, der seine Kontrolleure selber ausgesucht hat.

Schon heute hat der Kreml großen Einfluss auf die Gouverneure. Die Zentralregierung in Moskau hat mit den Provinzen eigene Verträge abgeschlossen. Die regeln, welchen Zugriff Moskau auf lokale Bodenschätze hat, wie viel Steuern abgeführt werden müssen und welche Subvention in die Region fließen. Die Verträge sind ein wichtiges Machtinstrument des Kremls, weil loyale Gouverneure mit Steuernachlässen belohnt, widerspenstige Verwaltungschefs abgestraft werden können.

Putins Pläne bedeuten „die Zerstörung des Föderalismus“, sagt Georgij Statarow, Chef des russischen Zentrums für angewandte Politikwissenschaft INDEM. „Es handelt sich um eine verfassungswidrige Revolution.“

Der russische Präsident selbst argumentiert so: Direktmandat und freie Gouverneurswahlen müssten weichen, um den Staat im Kampf gegen den Terror zu stärken und effektiver zu machen. Kampf gegen den Terror, damit meint er vor allem die islamistischen Rebellen aus Tschetschenien. Sie haben sich zu den Flugzeugentführungen und dem Überfall auf die Schule Nummer 1 in Beslan bekannt.

Doch nicht nur der liberale Duma-Abgeordnete Wladimir Ryschkow fragt, was die von Putin gesteuerte Ernennung eines Gouverneurs gegen den radikalen tschetschenischen Feldkommandeur Bassajew ausrichten kann. „Wie soll uns die Abschaffung eines Direktwahlkreises im sibirischen Kamtschatka helfen, mit dem tschetschenischen Präsidenten Maschadow zu verhandeln? Das ist mir schleierhaft.“

Der Kampf gegen den Terror ist für viele nur ein Vorwand, um aus Russland vollends eine militärisch gelenkte Autokratie zu machen. Putins Kreml-Mannschaft wolle sich Profite sichern und auch nach den Wahlen an der Macht bleiben. „Die vorläufige Zielvorstellung läuft in Richtung einer gelenkten oder, wenn man es etwas boshafter formulieren will, gespielten Demokratie“, sagt Prof. Heinz-Dietrich Löwe, Direktor des Seminars für Osteuropäische Geschichte an der Uni Heidelberg.

Dennoch regt sich in Russland – von ein paar Stimmen der Moskauer Intelligenz mal abgesehen – kaum Protest gegen die Politik Putins. Löwe, der auch Stalin-Biograf ist, erklärt das mit der „tiefen Überzeugung des russischen Volkes, dass Russland von einem starken Mann regiert werden muss“.

Wie die väterlich-autoritären Herrscher der russischen Geschichte, so sei auch Wladimir Putin ein Regent, der strafen darf, vergibt und oft über dem Recht steht. Die politische Tradition Russlands habe keine Grenzen der autoritären Herrschaft übermittelt. Noch sehe die Mehrheit der Russen keine Notwendigkeit, dem Machtstreben Putins Einhalt zu gewähren, sagt Historiker Löwe: „Aber wenn dieser Punkt erreicht ist, fürchte ich, wird es zu spät sein.“

Wie ist Russland heute aufgegliedert?

Russland ist das größte Land der Erde. Die Russische Föderation besteht aus 89 Regionen, die sind entfernt vergleichbar mit den deutschen Bundesländern. Dazu zählen 21 Republiken wie Tschetschenien oder Dagestan, sechs Regionen (Krays), zehn Bezirke (Okrugs), 49 Gebiete (Oblast), eine Autonome Republik sowie die Städte Moskau und St. Petersburg.
Jede dieser Regionen entsendet seinen Gouverneur in den Föderationsrat, die zweite Kammer des Parlaments in Moskau. Der Förderationsrat ist von großer Bedeutung, weil dort wichtigen Gesetzen zugestimmt werden muss. Der Einfluss der Provinzfürsten vergrößerte sich, als 1995 der damalige Präsident Boris Jelzin verfügte, dass die Chefs der Regionen frei gewählt werden. Wladimir Putin will das mit seiner Wahlrechtsreform nun revidieren.

Die 89 Regionen haben nicht alle die gleichen Rechte. Die Verfassung von 1993 schreibt den 21 Republiken mehr Autonomie zu als den anderen Regionen der Föderation: Ingusschetien, Komi und Tatarstan beispielsweise dürfen eigene Hymnen, Flaggen und Verfassungen haben.

Die Beziehungen der einzelnen Regionen zu Moskau sind sehr unterschiedlich. Besonders die Verwaltungseinheiten am südlichen Rand sind ein Quell der Unruhe. Die Republik Tschetschenien zum Beispiel besteht auf Unabhängigkeit von der Russischen Föderation. Russische Truppen halten die islamische Republik besetzt. Der blutige Krieg hat die ganze Kaukasusregion destabilisiert. In der Nachbarrepublik Nord-Ossetien überfielen Islamitische Kämpfer am 1. September die Schule in Beslan.

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