Auf der Strecke (in: Dummy 02)

Heroin von Afghanistan nach Europa wird durch Aserbaidschan geschmuggelt. Immer häufiger bleibt es dort. In der Staaten der Ex-Sowjetunion hängt mittlerweile die halbe Jugend an der Nadel.

In: Dummy, 02/2004

Der Pegel des Kaspischen Meeres steigt und der Vergnügungspark steckt im Sumpf. Nur das rostige Skelett des Riesenrades ragt noch in den Himmel über dem Grenzkontrollpunkt Astara. Die A 322 von Teheran nach Baku ist hier eine Schlammpiste. In den Pfützen versinken die Sattelschlepper bis zur Achse und schaukeln wie Fischerkähne in seichter Dünung. Die Laster bringen Windeln nach Baku, Tomaten nach Istanbul und Heroin nach Europa. Die A 322, wichtigste Verbindung zwischen dem Iran und der Ölrepublik Aserbaidschan, ist eine Seitenstraße der “Balkanroute”, auf der laut Interpol etwa 80 Prozent des in Europa sichergestellten Heroins transportiert werden. Die holprige Trasse ist Teil eines feinmaschigen; jahrhundertealten Transportnetzes zwischen Kabul und Amsterdam. Noch in den 70er und 80er Jahren kam der größte Teil des gehandelten Heroins aus dem Goldenen Dreieck. Doch Myanmar und Laos haben ihre Anbaufläche unter internationalem Druck in den Neunzigern fast halbiert. Inzwischen wirkt die Region an der thailändischen Grenze wie ein narkologischer Laubenpieperverein verglichen mit jenem Land, in dem sich heute der Opiumanbau konzentriert. Wenn die deutsche Polizei Opium findet, wie die 275 Kilo am 19. Dezember 2003 in Kassel, stammt es meist aus Afghanistan. Zwei Drittel aller Opiate, rund 3600 Tonnen, kamen 2002 laut UN Opium Survey aus dem Land am Hindukusch. Infolge der restriktiven Drogenpolitik der Taliban war die Anbaufläche für Schlafmohn 2001 von 82 000 auf acht Hektar zurück gegangen. Doch seit die Amerikaner die Islam-Krieger aufgerieben haben, verzehnfachte sich die Anbaufläche und hat heute fast die Rekordwerte von 1999 wieder erreicht. Schlafmohnanbau und Drogenschmuggel machten nach Schätzungen der UNO 2003 rund die Hälfte des legalen afghanischen Bruttosozialprodukts aus. Doch trotz wachsender Nachfrage verdienen die Opiumbauern immer weniger. 2002 kostete ein Kilo Opium beim Produzenten im Schnitt noch rund 350 Dollar. Im vergangegen Jahr fiel der Preis auf 283 Dollar, ein Minus von 19 Prozent. Der Grund: Immer mehr Afghanen steigen ins Schlafmohngeschäft ein, das drückt den Preis. Aus dem afghanischen Dorf zum westeuropäischen Verbraucher gelangt der Stoff im wesentlichen auf zwei Wegen. Die “Seidenroute”, der schon Marco Polo sein Einkommen verdankte, gewinnt seit dem Ende der Sowjetunion und den Balkankriegen der 90er Jahre an Bedeutung. Meist beginnt sie in Grenzörtchen wie dem usbekischen Termiz, wo sich die eisernen Grenztore selbst für Privatreisende nur gegen Bakschisch öffnen. Auf einer weißen Metallbrücke überqueren die Opium-Laster dann den Amu Darya-Fluss und rumpeln über Kasachstan und Russland gen Europa. Am wichtigsten ist jedoch laut Bundeskriminalamt noch immer die “Balkanroute”. Sie führt über den Iran, durch den rund die Hälfte der afghanischen Drogen transportiert werden, nach Istanbul, einem Knotenpunkt des internationalen Drogenhandels. Von dort geht die Ware über Rumänien und Bulgarien oder den Balkan weiter nach Holland, von wo aus sie in Europa verteilt wird. Die Kurierwege von Teheran nach Istanbul sind heute so verzweigt wie die Seidenstraße vor 1000 Jahren. Die Spediteure wollen flexibel reagieren können, wenn es Ärger gibt oder neue Kunden. Also biegen Reisebusse und Sattelschlepper mit viel Pulver im Tank des öfteren im Iran rechts ab und folgen der A322 aus Teheran kommend nach Norden, Richtung Aserbaidschan. Grenzübergang Astara. Wer von Teheran nach Baku will, geht entweder zu Fuß durch die Berge oder passiert diesen Posten direkt am Strand des Kaspischen Meeres. Mühsam kämpfen sich die Laster durch den Matsch. In Astara wird die A 322 schon deshalb nicht asphaltiert, weil die Grenzer zu viel Geld verlören, wenn die Straße gesperrt würde. 200 bis 300 LKW-Fahrer entrichten täglich ihren Obulus. “Wir geben den Grenzern immer zwei, drei Dollar, weil wir sie schätzen”, sagt der Kurde Adnan Kaya, 34, der Kabel nach Baku bringt. Wer Drogen schmuggelt, muss nicht immer Geld bezahlen. Mitunter reicht es, internationale Handelsabkommen zu studieren. Eines davon wurde 1951 von 45 Staaten abgeschlossen, um Zollkontrollen an jeder Grenze zu vermeiden und ist bekannt als “Transport International de marchandises par la Route”, kurz TIR. Interpol geht davon aus, dass Heroin und Opium in der Regel in TIR-Containern geschmuggelt werden. Denn diese Transitcontainer dürfen aserbaidschanische Zöllner ? so will es das Handelsabkommen ? nur öffnen, wenn sie den gesicherten Verdacht haben, dass in den 300 Säcken nicht alles Mehl ist, was staubt. Doch Röntgentechnik fehlt nicht nur in Astara und Hunde sind mit ein bisschen Pfeffer zu täuschen. Der Oberstleutnant der Anti-Drogenabteilung im Innenministerium sagt: “Was wir finden, ist Kleinkram.” So ähnlich geht es auch dem Mann mit dem buschigen Schnurrbart, der nahe der Ortschaft Yardimly aus seinem Niva-Jeep steigt, die Uniform gerade zieht und tief Luft holt. Sie ist auf 1100 Metern frisch wie am ersten Tag und die grünen Hügel liegen blass im Milchdunst der Mittagssonne. Seit neun Jahren jagt der Polizist in den kargen Talish-Bergen westlich von Astara Schmuggler, die sich in iranischen Dörfern mit Heroin eindecken und es nachts im Rucksack nach Aserbaidschan bringen. “Wir glauben, dass sie es tonnenweise rüber bringen”, sagt der Polizist, doch genau weiß das niemand. Fünf Kilo Heroin hat er mal gefunden, aber das ist lange her. 35 000 Dollar kostet hier ein Kilo bestes Heroin aus Afghanistan. In Russland bringt es das Doppelte. Wenn so ein Deal gelingt, darf sich ein aserbaidschanischer Dorfschullehrer mit seinem Monatslohn von 20 Euro fühlen wie ein Hamburger Referendar, der im Lotto sechs Millionen gewinnt. Der Polizist zeigt ins Tal. Der Grenzzaun ist auf dem staubigen Acker kaum zu erkennen: Stacheldraht, etwa 1 Meter 60 hoch und rund 700 nicht zu überwachende Kilometer lang. Dahinter liegt der Iran. Der Zaun war zu Sowjetzeiten ein alarmgesichertes sistema, ein Grenzsystem, an das sich niemand näher als 100 Meter heran traute. Doch als die Bergbauern beider Staaten sich 1992 verbrüderten, wurden Sperranlagen zu Weidezäunen und die Grenze löchrig wie ein alter Teppich. “An dieser Stelle gehen viele Schmuggler rüber”, sagt der Polizist, obwohl auf einer Anhöhe der Wachtrum des Postens 15 der aserbaidschanischen Grenztruppen in den wolkenlosen Himmel ragt. “Die Grenzer sind alle bestechlich”, sagt er, als hätte man nach der Uhrzeit gefragt. “Für hundert Dollar wurden hier mal 600 Rinder aus Dagestan in den Iran getrieben.” Doch auch wer zahlt, schmuggelt gefährlich. Regelmäßig werden Kuriere von Grenzern erschossen. “Es kann sein”, erklärt der Polizist, “dass sie den einen Soldaten bestechen, aber ein anderer Dienst hat, dass zufällig ein Vorgesetzter im Raum ist oder sie einfach was für die Statistik tun müssen.” Das Heroin ist längst nicht mehr nur für Europa bestimmt. Das UN-Drogenbüro UNODC schätzt die Zahl der Heroin- und Opiumkonsumenten 2001 weltweit auf 15 Millionen, zehn Millionen von ihnen nehmen Heroin. Doch die wenigsten von ihnen wohnen in Westeuropa. In der alten EU ist “H” ein Auslaufmodell ? im Gegensatz zu Kokain, Haschisch und Amphetaminen. Das Bundeskriminalamt (BKA) attestiert Heroin in Deutschland eine “rapide sinkende Attraktivität”. Der Anteil der so genannten Erstauffälligen, die Heroin nahmen, sank 2001 um 19 Prozent. 1994 hatten Ermittler 1590,5 Kilo Heroin beschlagnahmt. 2002 waren es noch 519,6 Kilo. Auch in Ostasien und Ozeanien geht der Heroinkonsum seit Jahren zurück. Die jährliche Opiumproduktion ist dennoch konstant. Weltweit liegt sie bei rund 4500 Tonnen jährlich, woraus sich etwa 400 Tonnen Heroin gewinnen lassen. 2001 wurden weltweit 53,9 Tonnen Heroin sichergestellt, davon 17,5 Tonnen in der EU. Da stellt sich auch unter Berücksichtigung hoher Dunkelziffern die Frage: Wer spritzt den Rest? Eine Antwort geben die Jugendlichen entlang der Schmuggelrouten. In Osteuropa, Russland und Zentralasien ist Heroin gefragt wie einst amerikanisches Kaugummi. Die Jugend dieser Schwellenländer durchlebt einen Rausch, wie ihn westeuropäische Generationen kaum kennen. Gut die Hälfte der afganischen Opiate wird laut Interpol durch Iran geschleust, das wichtigste Transitland auf dem Weg nach Westen. Obwohl Drogenhändlern und Konsumenten dort die Todesstrafe droht, sagt ein Sprecher des BKA, werde im Schiitenstaat”von Jahr zu Jahr mehr Heroin konsumiert”. Wenn die Lastwagen aus Iran bei Astara die Grenze überqueren, passieren sie einen Landstrich, den seine Bewohner “Kolumbien” nennen. Am subtropischen Wald der Talish-Berge liegt das jedoch nicht. “In dieser Gegend gibt es Dörfer, die riechen nach Heroin”, sagt Esmira Turide, die in dem 40 000-Einwohner-Ort Lenkoran die Anti-Drogen-Organisation SRCHO leitet. Hier, im Süden der islamischen Republik Aserbaidschan, in den verarmten Dörfern links und rechts des Drogenhighways, nähmen zwei von drei Jugendlichen Heroin oder Opium, sagt die Bürgerrechtlerin und man sieht ihr an, dass sie den Kampf verloren gibt. Esmira Turide hat nur eine Handvoll Mitstreiter und auf Unterstützung vom Staat wartet sie bisher vergebens. Deshalb sitzt Mesahir Efendiev im Zimmer 1013 des Innenministeriums. Aus seinem Büro im zehnten Stock des stalinistischen Prunkbaus blickt der nationale Koordinator des Southern Caucasus Anti-Drug Programme (SCAD) auf die Bucht von Baku. Die Molen im Hafen glänzen schwarz vom Rohöl. Am Horizont sind grau im Dunst die Bohrinseln zu erkennen. Von hier aus soll der xxjährige mit Millionen von UN und EU den Kampf gegen Sucht und Handel vorantreiben. Größtes Problem bisher: ?Es gibt kein Konzept für den Kampf gegen Drogen.” Das Drogenproblem sei so alt wie das postsowjetische Aserbaidschan, sagt Efendiev. Daher wußten Behörden so wenig über Heroin und AIDS wie die Junkies, nämlich nichts: ?Bis heute ahnen viele Süchtige nicht einmal, dass Heroin sie umbringen kann.” Efendiev hat 2000 Junkies in Baku und Lenkoran befragen lassen. Er schätzt, dass in dem 8-Millionen-Staat gut 200.000 Menschen Drogen nehmen. Während in Baku – wie auch in Deutschland ? mehr Marihuana als Heroin geraucht wird, sei das Pulver in Lenkoran die populärste Droge: ?Und das Interesse wächst.” Männer flüchten in den Rausch, weil Heroin weit leichter zu bekommen ist als Arbeit und verspricht, was der Koran nicht bieten kann: das Paradies im Hier und Jetzt. Die Teeplantagen sind vertrocknet, die Fabriken verwaist. “Warum soll ich einen Entzug machen?”, fragt Gosan Gussejnow, ein 53jähriger Familenvater, der Heroin spritzt, seit er vor drei Jahren seinen Job als Architekt verlor: “Arbeit finde ich trotzdem nicht.” Wenn Eltern nach alter Tradition einen Mann für ihre Töchter suchen, berichtet der Journalist Zahir Amanov, fragen sie nicht mehr, ob der Bräutigam ein Auto hat, eine Wohnung oder ein Vermögen. “Sie wollen wissen, ob er kein Junkie ist.” Bei Frauen beginnt die Sucht erst nach der Hochzeit. Zu Hunderttausenden verdienen Väter ihr Geld in Rußland, Tausende Ehemänner sind im Krieg mit Armenien umgekommen. Das ist für die Kinder so stressig wie für ihre Mütter: Männer gönnen sich im Schnitt mit 15 den ersten Trip. Frauen mit 25. Ähnliches gilt für die Transitländer Osteuropas. Zwischen 1995 und 1999 hat sich der Anteil der 16-Jährigen unter Heroinkonsumenten in der EU und Norwegen halbiert, im selben Zeitraum in den neuen EU-Mitgliedsländern verachtfacht. Fast jeder Fünfte im Alter von 16 Jahren nimmt dort Heroin. Die meisten beginnen mit 25. Und weil sich die Junkies in der Ex-Sowjetunion das Heroin vorzugsweise intravenös spritzen, breiten sich AIDS und Hepatitis in Kirgisien, Kasachstan, Usbekistan und Russland so schnell aus wie der Stoff im Körper ihrer Bewohner. Eine halbe Millionen Menschen sind laut UN Opium Survey in den Ländern entlang der Transitrouten am Drogenhandel beteiligt. Jedes Jahr setzen sie 30 Milliarden Dollar um. Als Märkte sind diese Staaten wegen der schwachen Wirtschaft nicht lukrativ wie die EU ? ein Schuss ist in Aserbaidschan leicht für fünf Euro zu bekommen. Doch die Dealer verdienen gut, weil sie mehr verkaufen: Schon jetzt leben in den neuen Märkten mehr Junkies als in Europa, schreibt UNODC in ihrem Drogenbericht 2003: “Und das Potential für weiteres Wachstum ist riesig.” Eine Plattenbausiedlung am südöstlichen Stadtrand von Moskau, vier Trolleybushaltestellen entfernt von der Metro-Station Kusminki, einem stadtbekannten Drogenmarkt. Von den neunstöckigen Bauten blättert die hellblaue Farbe. Kinder toben im Staub, zwischen Büschen stehen verbogene Klettergerüste. Ira, 25, sitzt in der Küche, zweiter Aufgang, erster Stock. Vor ein paar Minuten hat sie sich einen Schuss gesetzt, zwei weitere werden heute noch folgen. In der Küche brummt der Kühlschrank. Ira schaut aus dem Fenster. “Alle meine Freunde nehmen Drogen. 99 Prozent hier in der Gegend nehmen Drogen. Es gibt nichts zu tun, es gibt einfach keine Arbeit.” Leute, die nicht spritzen, interessierten sie nicht, sagt Ira. Wenn sie frühere Freunde auf der Straße treffe, heißt es nur: “Ah, hallo.” Das war´s. “Alle wissen, dass es schlecht ist, alle wissen, dass es ein Sumpf ist ? und alle versinken drin.” Drei oder vier von ihren ehemaligen Schulfreunden seien schon gestorben. Aber sie haue das nicht um: “Ist halt unser Schicksal.” Als Ira 1993 die Schule verließ, ging es in Russland drunter und drüber. Wo einst der einserne Vorhang für Ruhe sorgte, brachten offenen Grenzen und konvertierbare Währungen mit der Marktwirtschaft auch den Drogenhandel in Schwung. In einst staatlichen Pharmafabriken wurden Amphetamine produziert, der Rest kam aus Afghanistan. Die Dealer fanden eine Jugend, die alles nahm, was nach Westen roch. Marx stand im Lehrplan und man selber auf der Straße. Arbeitslosigkeit war so neu wie Heroin. Vielleicht hatten Iras Eltern in den 70ern mal mit hausgemachten Pharma-Drogen experimentiert, Baribiturate, Morphiumderivate oder Parkinsonmedikamente mit Alkohol verdünnt. Im Warschau der 80er war polnisches Heroin im Umlauf, das alle nur “Kompott” nannten. Selbst in Aserbaidschan, wo Opium seit jeher Zahnschmerz lindert und Großvaters Laune hebt, fuhren die Händler 1992 über die Dörfer und fragten, ob nicht jemand Geld geben wolle für dieses weiße Pulver, das ihnen ihre iranischen Handelspartner säckeweise in den Kofferraum gestellt hatten. Sowjetischer Rausch kam aus der Flasche, nicht aus der Spritze. Auch Ira wusste nichts über Drogen, was die Neugier nur steigerte: “Beim ersten Mal hatte ich noch Angst vor der Spritze.” Sie konnte danach nichts essen und trinken, erst wenn man abhängig sei, gehe das wieder. Ira verließ die Schule nach der neunten Klasse, eine Ausbildung hat sie bis heute nicht. Mit ihrer Mutter, der Oma und ihrer Schwester bewohnt sie eine Zwei-Zimmer-Wohnung. Etwa 40 Euro braucht Ira täglich für ihr Heroin, ziemlich genau die Monatsrente ihrer Oma. Wenn ihre Schwester schon ins Portemonnaie der Babuschka gegriffen hat, klaut Ira auf der Straße. Mohnstroh, LSD, Methadon, Heroin für 100 Dollar das Gramm ? Drogen zu besorgen ist in Moskau nirgends ein Problem. “Die Anzahl der Drogenabhängigen wächst unglaublich”, sagt Nikolai Brotzkij, Chefarzt am Moskauer Krankenhaus Nummer 17, der größten Entzugsanstalt des Landes. Russlands Rat für Außen- und Sicherheitspolitik befand schon 1999, das Ausmaß der Sucht im Land sei “derartig gewaltig”, dass es die Gesellschaft zu destabilisieren drohe. Und weiter: Der Drogenmissbrauch sei “eine Bedrohung der nationalen Sicherheit.” Eine erfolgversprechende Drogenpolitik entwickelte sich nicht. Drogensucht war ein Stigma, Junkies wurden weggesperrt und Therapie wurde zur Drohung. “Die Rückfallquote ist enorm”, sagt Drogenarzt Nikolai Brotzkij: “Fast alle kommen wieder.” Elschad Gurbanov in Lenkoran wäre froh über soviel Andrang. Doch einziger Junkie in der Entzugsklinik des Arztes ist ein Großdealer mit glänzenden Schuhen und 300er Mercedes. Mesahir Machmedov, 37, nach eigenen Angaben ein opiumsüchtiger “Kaufmann”, bezeichnen Mitarbeiter des Innenministeriums in Baku als größten Drogenhändler der Region. Machmedovs Goldzähne funkeln, wenn er sich mit großen Augen auf dem quietschenden Metallbett sitzend nach vorne beugt und sagt, dies sei Transitland: “Hier herrscht Krieg, ein Krieg ums Geld.” Niemand verkaufe hier Drogen, ohne Erlaubnis der Polizei: “Die Bullen sind hier die größten Drogenhändler.” Der ehemaliger Polizist Rofschan*, der in “Kolumbien” jahrelang führende Posten bekleidete, bestätigt, dass jene, die den Drogenhandel bekämpfen sollen, ihn organisieren und von Ministern gedeckt werden. Er sagt auch, warum trotz tonnenschwerer Lieferungen 2003 in Aserbaidschan lediglich 1,253 Kilo Heroin sicher gestellt wurden: “Als ich dem Innenministerium mal einen Tipp gab, machten sie eine Razzia, kamen hinterher zu mir ins Büro, legten zwölf Kilo Heroin auf meinen Schreibtisch und sagten: Hier, dein Anteil.” In Aserbaidschan, dem größten Land des Transkaukasus, leben 90 Prozent Muslime. Die wenigsten tragen Kopftücher oder gehen in die Moschee, der Ramadan wird gefeiert wie Weihnachten in Europa: Man isst und trinkt. Dennoch, in dieser islamisch-paternalistisch geprägten Welt hat der Staat gegen die Treue zum meist hunderte Menschen umfassenden Familienclan keine Chance. Autokratie hat in Aserbaidschan seit zehn Jahren einen Namen. Alijew. Der Clan um den gerade verstorbenen Präsidenten Heidar Allijew und seinen Sohn Ilham hat das Land in der Korruptionsweltrangliste unter den ersten zehn etabliert. Ministerposten sollen für 200.000 Dollar zu haben sein. Das Privatvermögen der Alijews wird auf zehn Milliarden US-Dollar geschätzt. Polizist Rofschan erinnert sich, wie vor Jahren der damals stellvertretende Ministerpräsident einen Freund bei ihm vorbeschickte. Rofschan hatte gerade 56 Kilo Opium und 3,5 Kilo Heroin beschlagnahmt. Der Besucher legte ein Couvert mit 100 000 Dollar auf den Schreibtisch und sagte: “Ich habe mit dem Minister gesprochen. Du solltest die Sache nicht weiter verfolgen.” *Name von der Redaktion geändert.

Daheim und neue Feature

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”Endlich privat!” – Ärzte freuen sich über die Kostenerstattung

Viel ist in den vergangenen Monaten über die Gesundheitsreform berichtet worden. Im Mittelpunkt standen stets Praxisgebühr, Zuzahlungen und Brillengläser. Doch am 1. Januar sind noch weitere brisante Regelungen in Kraft getreten, die bisher kaum Beachtung fanden. Verbraucherschützer warnen vor allem vor der so genannten Kostenerstattung: Danach können sich Pflchtversicherte de facto zu Privatpatienten erklären. Ärzte reiben sich die Hände – und verschweigen mitunter die beträchtlichen Risiken für den Patienten.

Deutschlandfunk, DLF-Magazin, 5. Feb. 2004

Sprecher: Darauf scheinten die deutschen Kieferorthopäden lange gewartet zu haben: “Endlich privat!” jubelt das Branchenportal kfo-online.de. Endlich könnten auch gesetzlich Pflichtversicherte “alle Vorteile” genießen, die Privatpatienten seit Jahren so schätzen: Zugang zu neuen Behandlungsmethoden und Entscheidungsfreiheit über die Art der Therapie – das begeistert den Bundesverband der Kieferorthopäden ebenso wie ihre Kollegen in der Bundeszahnärztekammer: Patienten bekämen jetzt Zugang zum “gesamten Therapie-Spektrum der modernen Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde”, verbreiten die Standesvertreter gut gelaunt. Auch AOK-Kunden seien nicht mehr den “Beschränkungen des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung” unterworfen. Das ist alles richtig – aber nur die halbe Wahrheit.

Denn für Patienten, die sich auf die so genannte Kostenerstattung einlassen, wird die Therapie nicht nur “schonender, komfortabler und schneller”, wie die Kieferorthopäden erklären: Der Arztbesuch wird in erster Linie teuer. Doch über die enormen finanziellen Risiken, die für Patienten mit der Kostenerstattung verbunden sind, verliert die Ärztelobby kein Wort.

Wer gesetzlich versichert ist, kann sich seit dem 1. Januar bei seiner Krankenkasse zur Kostenerstattung melden. Das Model klingt erstmal verlockend: Ein Pflichtversicherter geht zum Arzt seiner Wahl und kann frei wählen aus dessen Therapie- und Medikamentensortiment: Was seine Kasse nicht zahlt, legt der Patient aus eigener Tasche drauf. Doch der Deal hat viele Haken, an denen jedoch nur Patienten hängen bleiben: Erstens bekommt der Patient von seinem Arzt eine Rechnung über die gesamten Behandlungskosten und muss diese erstmal aus eigener Tasche bezahlen – da ist die Grippe schnell das kleinste Problem. Ulrike Steckkönig, Gesundheitsredakteurin bei Stiftung Warentest/Finanztest:

O-Ton: Das Problem ist: Die Leute sind für ein Jahr an die Enscheidung gebunden. Und wenn sie in diesem Jahr krank werden und eine Dauerbehandlung brauchen, dann haben sie das Problem, dass sie nicht nur Praxisgebühr und Zuzahlung leisten müssen, sondern eben auch das Arzthonorar und die Medikamentenkosten vorstrecken müssen. Das kann jemanden, der nicht so hohes Einkommen hat umwerfen.

Sprecher: Doch der zweite Haken wiegt noch schwerer: Zwar schreibt der Bundesverband der Kieferorthopäden: “Die Krankenkasse erstattet Ihnen komplett die Ihnen zustehenden Kassenleistungen.” Doch das ist irreführend: Der Patient reicht zwar die Arztrechnung bei seiner Kasse ein, aber bekommt nie den gesamten Betrag erstattet. Das liegt daran, dass der Kassenpatient für seine Ärzte zu einem Privatpatient wird, dem sie wesentlich höherer Honorare berechnen dürfen – und zwar für alle Leistungen, vom Stützverband bis zur High-Tech-Thearpie: Ein Ganzkörper-Check kostet dann nicht mehr rund 15 Euro, sondern bis zu 34 Euro, also mehr als doppelt so viel. Von seiner gesetzlichen Krankenkasse bekommt der Patient aber nur den Kassensatz erstattet, also jene 15 Euro. Und davon zieht die Kasse noch eine Bearbeitungsgebühr ab.

Das heißt: Wer sich einmal für die Kostenerstattung entscheidet, weil er eine neue Therapien und Medikamente nutzen will, der zahlt ein Jahr lang bei jedem Arztbesuch aus eigener Tasche drauf – egal ob ein blutender Zeh verbunden wird oder die Zähne luxussaniert werden. Und – das ist der dritte Haken: Der Patient bekommt nicht nur vom Hausarzt eine gesalzene Rechnung, sondern auch vom Zahnarzt, vom Kieferorthopäden, vom Gynäkologen und so weiter. Wenn er es nicht ausschließt, muss der Patient sogar die Kosten einer stationären Behandlung im Krankenhaus vorstrecken und teilweise bezahlen. Da sollte man gut überlegen, ob man sich zum Privatpatienten erklärt, nur weil ein Arzt ein Medikament verschreiben will, das die Kasse nicht bezahlt. Sonst kann die neue Entscheidungsfreiheit sehr schnell sehr teuer werden, sagt auch der Uwe Kraffel, Vorsitzender des Berufsverbandes der Augenärzte.

O-Ton: Das Risiko für den Patienten wäre, wenn er intensiv einer ambulanten Betreuung bedürfte, könnte die finanzielle Beteiligung nur schwer zu überschauende Ausmaße annehmen.

Sprecher: Für die Patienten ist die Kostenestattung also eher eine Kostenexplosion, die in der Regel mehr schadet als nutzt. Doch davon ist in der Werbung von Kieferorthopäden und Zahnärzten nichts zu lesen. Denn Ärzte profitieren weit mehr von der Kostenerstattung als ihre neuen Privatpatienten. Christian Bolstorff, Präsident der Berliner Zahnärztekammer sagt, warum ihm die neue Freheit der Kassen-Patienten so gut gefällt:

O-Ton: Wir kommen natürlich auch aus der Budgetierung raus. Die Budgettierung ist absolut ungerecht. Bedeutet, dass ich am Ende nicht mehr den vollen Lohn für meine Arbeit bekomme. Und wenn ich mit dem Patienten abrechne, bekomme ich die Einzelleistung bezahlt. Das ist für mich wichtig. Ich weiß, was ich dann für einen Lohn bekomme.

Sprecher: Zu Deutsch: Wenn sich viele ihrer Patienten für die Kostenerstattung entscheiden, verdienen die Ärzte mehr Geld. Während Ärzte pro Kassenpatient im Quartal nur eine bestimmte Summe berechnen dürfen, können sie so viele Privatpatienten verarzten wie so wollen und allen die weit höheren Honorarsätze berechnen.

Der Augenarzt Uwe Kraffel sagt, er habe wegen der hohen finanziellen Risiken noch keinem einzigen Patienten geraten, sich auf die Kostenerstattung einzulassen. Doch rechnet er damit, dass bald Zusatzversicherungen angeboten werden. Die würden dann Differenz zwischen dem Rechnungsbetrag des Arztes und dem, was die Kasse erstattet, übernehmen – Kosten: rund 30 Euro im Monat. Welchen Patienten wird er dann zur Kostenerstattung raten?

O-Ton: Wenn so einen Tarif geben wird, praktisch allen.

Sprecher: Noch weiß niemand genau, wieviel Pflichtversicherte sich seit dem 1. Januar auf die Kostenerstattung eingelassen haben, es dürften noch nicht viele sein. Doch nach Meinung von Verbraucherschützern besteht die Gefahr, dass Ärzte ihre Kassenpatienten in die Kostenerstattung drängen, um so höhe Honorare zu kassieren und Dienstleistungen zu verkaufen, die sonst niemand bezahlt. Thomas Isenberg von der Verbraucherzentrale Bundsverband:

O-Ton: Die Gefahr des Hineindrängens in die Kostenerstattung besteht. Konkret haben sie ja schon in Ärzte-Zeitungen die Werbekampagnen laufen von privaten Versicherungsunternehmen, die sagen: Sieh zu, dass dein Patient einen Abschluß für diese Zusatzversicherung abschließt. Das ist gut für den Patient, der dann die Kostenerstattungs-Mehrkosten aus der Zusatzversicherung bezahlt bekommt. Und für dich als Arzt ist es auch gut, weil du höhere Verdienstmöglichkeiten hast.

Sprecher: Ärztevertreter bestreiten, dass es ihnen im Werben für Kostenerstattung in erster Linie um ihren privaten Kontostand geht. Uwe Kraffel vom Berufsverband der Augenärzte sagt, er werde seinen Patienten die Kostenerstattung aus einem anderen Grund empfehlen:

O-Ton: Das Problem ist einfach, dass die Versorgung der Patienten immer schlechter wird. Natürlich ist es auch so, dass man finanziell besser dasteht, aber vor allem: Wir können dann die bessere Medizin bieten.

Sprecher: Doch die Wirkung der “bessere Medizin” ist bei genauer Betrachtung gering. Zwar kann, wer sich auf die Kostenerstattung erinläßt, Therapien nutzen, die noch von keiner gesetzlichen Kasse bezahlt werden. Auch bekommt er schneller einen Termin. Aber Verbaucherschützer bemängeln, dass der medizinische Nutzen für die Patienten minimal sei. Ulrike Steckkönigvon Finanztest, sagt, für Pflichtversicherte der Gesetzlichen Krankenverischerung, kurz GKV, sei es medizinisch nicht notwendig, sich zum Privatpatienten zu erklären:

O-Ton: Die GKV-Patienten haben nach wie vor den gesetzlich verbrifeten Anspruch, dass sie alle Leistungen die medizinisch notwendig Leistungen bekommen. Die Begründung, warum eine bestimmte Medikament nicht im Leistungskatalog der gesetzlichen Versicherung drin ist, die sind nicht immer nachvollziehbar. Aber grundsätzlich ist es schon so: Was notwendig ist, bekommen die Patienten.

Sprecher: Wenn ein Arzt vorschlägt, die Kostenerstattung zu wählen, weil angeblich vorteilhafte Leistungen oder Medikamente nicht von der Kasse bezahlt werden, dann sollte der Patient skeptisch sein:

O-Ton: Dann sollte der Patient auch immer nachfragen, worin genau der meßbare Vorteildieses Medikaments gegenüber anderen liegt und im Zweifelsfall auch bei der Krankenkasse nachfragen, ob das denn wirklich so ist, erstens, dass die Kasse es nicht zahlt und zweitens, dass es diesen medizinischen Zusatznutzen auch wirklich gibt.

Sprecher: Dass dieser Rat begründet ist, belegt der Augenarzt Uwe Kraffel. Auf die Frage, mit welchen konkreten medizinischen Vorteilen er einem Patienten überzeugen will, sich auf die teure Kostenerstattung einzulassen, sagt Kraffel:

O-Ton: Dem Patienten entsteht der Nachteil, dass er einfach Medikamente nehmen muss mit einem ungünstigeren Nebenwirkungsprofil, Medikamente, die ihn müder machen, die Leistungsbereitschaft herabsetzen, was einfach Nachteile hat.